25.01.2011 Weigert euch

Oberstleutnant der Bundeswehr schreibt Leserbrief an SZ

Aktion Freiheit statt Angst dokumentiert hier einen Leserbrief an die sueddeutsche, der schon wegen seiner Länge dort keine Chance auf Veröffentlichung hat.

R. Knauf, Oberstleutnant der Bundeswehr

Weigert euch, in Afghanistan zu töten!

Die Gewaltaversion unserer Gesellschaft ist eine große zivilisatorische Errungenschaft. Sie ist das Ergebnis des Entsetzens über die Gewaltorgien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Gewaltaversion wird gerade zerstört.

Von: R. Knauf
Gesendet: Montag, 17. Januar 2011 21:27
An: gewissensfrage@sz-magazin.de
Betreff: Bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr

Sehr geehrter Herr Dr. Dr. Erlinger,

schon lange trage ich mich mit dem Gedanken, Ihnen zu schreiben. Die Gewissensfrage des letzen SZ-Magazins  hat mich nun so aufgewühlt, dass ich nicht anders kann. Sie bezogen darin klar Stellung, warum man es aus moralischen Gründen ablehnen müsse, ein solch ‑böses Ding", wie eine Munitionskiste, aus ästhetischen Gründen ins Wohnzimmer zu stellen. Weil Mittel, die dezidiert dem Töten dienen, nichts im Privatleben verloren haben. Wenn Sie das so eindeutig und begründet ablehnen, werden Sie sicher meine Gewissensnot erkennen, die ich versuche, im Folgenden zu beschreiben (Leider ging es nicht kürzer).

Ich bin Diplom-Chemiker und Oberstleutnant der Bundeswehr. 1990 wurde ich als Oberleutnant von der NVA übernommen. Der Inhalt des Slogans der Bundeswehr ‑Kämpfen können um nicht kämpfen zu müssen!" war mir vertraut und deshalb war der Übergang nicht schwer. Ich tat das gleiche wie früher: Ich bereitete mich auf einen Krieg vor. Dieser Krieg aber würde nie kommen, weil wir uns ja darauf gut vorbereiteten. Das, so hofften wir, würde potenzielle Aggressoren abschrecken.

 Angriffskrieg gegen Serbien 1999

Spätestens seit unserem Angriffskrieg gegen Serbien 1999 änderte sich das: wir kämpfen inzwischen, obwohl wir gar nicht kämpfen müssen. Seit diesem Krieg, so denke ich, werden die deutschen Streitkräfte missbraucht. Und es wurde mir inzwischen klar, dass  "kämpfen" ein gewaltiger Euphemismus ist: Kämpfen heißt töten. Kämpfen bedeutet die Vernichtung, bedeutet die Auslöschung menschlichen Lebens. Kämpfen ist Unrecht, selbst dann, wenn der Gegner eine Uniform tragen sollte und das Töten nach dem humanitären Völkerrecht legal wäre. Das humanitäre Völkerrecht ist der letzte Hort der Inhumanität. Töten ist Handeln jenseits von Gut und Böse.

Seit 2003 diene ich beim Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. In meiner Tätigkeit begleite ich als Berater des Auswärtigen Amtes die weltweite vollständige Abrüstung der Bio- und Chemiewaffen. Diese Aufgabe entspricht meiner Lebensauffassung völlig: Denn es gibt nichts Edleres für einen Soldaten, als daran mitzuwirken, weltweit abzurüsten, all diese Mordwaffen zu vernichten und sich damit selbst als Soldat überflüssig zu machen. Die Versetzung auf eine andere Stelle käme für mich inzwischen nicht mehr in Frage. Würde meine Dienststelle aufgelöst und ich könnte mich nicht mehr mit meinem Wissen in Abrüstung und Rüstungskontrolle einbringen, müsste ich meinen Dienst quittieren.

Keine Teilnahme an bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr

Vor zwei Jahren erklärte ich gegenüber meinem Disziplinarvorgesetzten, sollte mir ein Befehl zur Teilnahme an bewaffneten Auslandseinsätzen der Bundeswehr erteilt werden, müsste ich aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigern. Ich bin davon überzeugt, diese Einsätze sind nicht nur moralisch zu verurteilen, sondern auch rechtswidrig. Bei dieser ‑Gewissensentscheidung" bin ich nach wie vor mit mir im Reinen. Vor meinen Kameraden hielt ich diese Erklärung allerdings bisher geheim. Von meinen Vorgesetzten wurde sie offenbar respektiert. Ein Einsatz wurde bisher für mich nicht befohlen.

Pflicht, zur Gehorsamsverweigerung aufzufordern

Inzwischen komme ich aber immer mehr zur Überzeugung, und das ist meine Gewissensfrage an Sie, sehr geehrter Herr Dr. Dr. Erlinger, dass ich verpflichtet bin, meine Kameraden offen zur Gehorsamsverweigerung aufzufordern. Denn dies sind wir, so denke ich, den Offizieren des 20. Juli schuldig. Diese standen 1944 auf gegen einen sinnlosen, verbrecherischen Krieg. Viele der Verschwörer bezahlten ihren Mut mit dem Leben. Hätten sie Erfolg gehabt, wären womöglich Millionen unschuldige Menschen am Leben geblieben. Weil das Attentat scheiterte, mussten wir schließlich durch Fremde befreit werden. Bei dem Historiker Reinhart Koselleck las ich in diesem Zusammenhang, wir Deutschen wurden damals befreit ‑vom Auftrag und von der Pflicht zu töten".

Krieg, wie damals, sinnlos und verbrecherisch

Heute führen wir in Afghanistan, wie damals, einen sinnlosen, verbrecherischen Krieg. Unser Parlament hat uns Auftrag und Pflicht, zu töten, zurückgegeben. Die Rot/Grüne und alle folgenden Koalitionen schickten uns dazu weiter, als unsere Großväter je gekommen waren. Schockierend für mich war in diesem Zusammenhang, wie Christian Ströbele im letzten Jahr in einem Interview äußerte, dass die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion beim Besuch des damaligen ISAF-Kommandeur Stanley McChrystal diesen förmlich drängten, ihnen, den Abgeordneten, zu erklären, weshalb wir in bewaffneter Mission in Afghanistan sein müssten. Sie wissen es offenbar selbst nicht. Aber verlängern jährlich aufs Neue das Mandat und verlängern damit das gegenseitige Schlachten.

Im Mai 2010 las ich bei rp-online ein Interview mit KSK-Kommandeur Ammon unter der Überschrift ‑Töten gehört zum Auftrag". Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich etwas verpasst hätte. Gab es eine Wannsee-Nachfolgekonferenz? War denn die Endlösung der Talibanfrage beschlossen worden? Aber ich beruhigte mich: so schlimm wirds schon nicht werden? Das Interview ist immer noch (und folgenlos) auf der Web-Site des BMVg (http://www.deutschesheer.de/portal/a/dso/aktuelles/nachrichten/jahr2010/mai2010?yw_contentURL=/C1256F870054206E/W285TG3T935INFODE/content.jsp)  zu finden. Ich werde wohl nie verstehen, dass Diebstahl eine Straftat sein soll, das Töten eines Menschen jedoch nicht. Vorsätzliches Töten ist Mord. Und nicht nur Soldaten, auch Politiker sind Mörder, die Soldaten in ‑Einsätze mit einem robusten Mandat" entsenden.

Wir machen in Afghanistan dort weiter, wo wir 1945 aufhören mussten

Gerade dieses Interview mit General Ammon zeigt, wir machen in Afghanistan dort weiter, wo wir 1945 aufhören mussten. Wieder sterben durch amtliches deutsches Handeln unschuldige Menschen. Das hat auch schlimme Auswirkungen auf den Zustand und die Moral der Truppe. Sie verroht zunehmend in Sprache und Geist. Es kursiert gerade folgender Witz: Ein deutscher Afghanistankämpfer wird von einem Reporter gefragt, was er denn beim Erschießen eines Aufständischen spüre. Und der antwortet: ‑Den Rückstoß meiner Waffe." - Und alles johlt. War ja kein Judenwitz. Deshalb darf man das offensichtlich. Wenn ich dann äußere, dass ich das doch ziemlich ekelhaft finde, ernte ich nur Unverständnis. Warum, frage ich mich dann, können wir denn nur die eigenen Toten beklagen und die der Fremden sind uns gleichgültig? Keiner fühlt sich schuldig. Niemand unternimmt auch nur den Versuch, seine Überzeugungen beispielsweise an seinen eigenen Freunden und Verwandten zu prüfen. Wenn die eigenen Eltern oder Kinder erschossen würden, würde sicher mancher mehr spüren, als nur den Rückstoß seiner Waffe.

Todesstrafe ohne Urteil

Inzwischen haben wir in Afghanistan bereits mehr Menschen umgebracht, als die DDR an der Grenze. Unsere Politiker entschuldigen sich, wenn unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen sind, z.B. Frau Merkel in der Regierungserklärung nach dem Bombardement vom 04.09.2009. Aber wer ist schuld in Afghanistan? Der bewaffnete Taliban? Welches Gericht hat diese Schuld festgestellt? Ich habe nach 1990 gelernt: es gibt immer auch Schuldausschlussgründe. Ist das Handeln der Taliban überhaupt eine Straftat, und ist die Tat mit Strafe bedroht? Sicher nicht. Und dennoch wird ohne Urteil (falls nicht doch gerechtfertigt im Rahmen von Notwehr oder Nothilfe) die Todesstrafe vollstreckt. Obwohl die Todesstrafe nach Art. 102 GG abgeschafft ist? In mehreren Ergänzungslehrgängen war mir nach der Übernahme in die Bundeswehr außerdem beigebracht worden, was Menschen- und Grundrechte sind, dass sie universelle Geltung besitzen und dass die Bundeswehr als Teil der ausführenden Gewalt daran gebunden sei. Deshalb bin ich besonders sensibilisiert und erschüttert, wenn diese Grundsätze heute offensichtlich nicht mehr gelten und, aus meiner Sicht, DDR-ähnliche Verhältnisse entstehen.

Befreiung en passant

Nehmen wir mal an, der Westen wäre bereits vor 25 Jahren auf die Idee gekommen, Terroristen mit militärischer Gewalt zu jagen. Wir hatten ja ein knappes Dutzend in der DDR versteckt, wovon ich allerdings erst nach deren Untergang erfuhr. Und nehmen wir mal an, die NATO, inklusive Bundeswehr, wäre deshalb, wie heute in Afghanistan, in die DDR einmarschiert, um diese Terroristen zu jagen und uns arme DDR-Bürger en passant zu befreien und Ostdeutschland zu demokratisieren. Ich hätte es nicht als Befreiung empfunden. Mit meinem damaligen Bewusstsein, mit meiner damaligen Kenntnis, wäre das für mich eine imperialistische Aggression gewesen. Ich hätte die feindlichen Soldaten, die heute meine Kameraden sind, erschossen. Oder sie mich, je nachdem. Dann wäre ich nämlich in deren Augen der Taliban gewesen. Ja, schlimmer noch, ich wäre der Menschen fressende, Zivilisation zerstörende Kommunist gewesen, der ja seit Gesine Lötzsch wieder durch die Medien wabert.

Ich, jedenfalls, hätte tatsächlich ohne zu zögern meinen Eid befolgt, ‑die DDR auf Befehl der Arbeiter- und Bauernregierung gegen jeden Feind zu schützen". Mit der Waffe in der Hand. Und ich hätte auch aus meiner tiefsten inneren Überzeugung heraus so gehandelt. Ich hätte damals meinen gerechten Krieg geführt. So wie die Taliban mit Sicherheit der Überzeugung sind, ihren gerechten Krieg zu führen, gegen eine hochgradig korrupte, durch Wahlfälschung an die Macht gekommene Regierung Karzai, die nur durch ausländische Interventionstruppen an der Macht gehalten werden kann.

Minister für Krieg statt für Abrüstung und Verteidigung

Heute bin ich froh, dass es vor 25 Jahren nicht so gekommen ist. Dass ich nicht zum Mörder wurde an denen, mit denen ich jetzt das Büro teile. Ich bin froh, dass der Osten plötzlich sagte (ohne mein aktives Mitwirken!): lasst uns mit dem Irrsinn aufhören, wir wollen uns nicht mehr gegenseitig die Schädel einschlagen. Wir rüsten ab, lösen erst die NVA und dann den ganzen Warschauer Pakt auf und schlichten Streit nur noch friedlich, so, wie es die UN-Charta vorsieht. Wir hatten in der Wendezeit einen Minister für ‑Abrüstung und Verteidigung"! In seiner ersten Regierungserklärung sagte dieser Minister Rainer Eppelmann (daran erinnere ich mich noch genau), es wäre bewusst die Abrüstung voran gestellt worden. Weil Abrüstung wichtiger sei, als Verteidigung. Am 03. Oktober 1990 bekamen wir dann wieder einen ‑Verteidigungsminister", der heute faktisch ‑Kriegsminister" ist. Das ist ein unglaublicher zivilisatorischer Rückschritt!

Die Schuld, Menschen umgebracht zu haben, wäre ich sicher nie wieder los geworden. Hätte ich vor die Mütter der Erschossenen treten und um Vergebung bitten können? Selbst wenn sie mir verziehen hätten, vor meinem Gewissen wäre ich immer schuldig geblieben. Solch eine Last schleppt man das ganze Leben mit sich herum. Es war einfach Glück, dass ich damals niemanden töten musste. Aber warum sollte ich, warum sollten wir heute Afghanen töten? Oder beim Töten helfen? Die Last, die dabei entsteht, ist doch immer die gleiche.

Was nützen einem Menschen Religions-, Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und sonstige Freiheitsrechte, wenn er nicht mehr lebt?

In unserer deutsch besetzten Zone (DBZ) in Afghanistan gilt das deutsche Grundgesetz. Die Politik erklärt uns, wir hätten erst vor, die Verantwortung irgendwann einmal an die Afghanen zu übergeben. Nach der Übergabe würde afghanisches Recht zur Anwendung kommen. Aber selbst dann wäre die Bundeswehr selbstverständlich weiter an das GG gebunden. Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 bestimmt: ‑Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Dies ist das höchste aller Menschenrechte. Und wir sind doch ausgezogen, den Afghanen die Menschenrechte zu lehren? Westliche Werte kann man aber nur verbreiten, wenn man sie selbst einhält und danach lebt. Wir können und werden Frieden und Demokratie nicht in die Herzen der Menschen schießen. Gem. Artikel 1 Abs. 3 ist die Bundeswehr zudem als Teil der vollziehenden Gewalt genau an dieses als unmittelbar geltendes und höchstes Grundrecht gebunden. Denn was nützen einem Menschen Religions-, Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und sonstige Freiheitsrechte, wenn er nicht mehr lebt, weil ich ihn erschossen habe?

Dieses Recht auf Leben wird nicht gewährleistet, wenn die Streitkräfte ‑zum Einsatz militärischer Gewalt autorisiert" werden (alle ISAF-Mandate des Bundestages, auch die Mandate für KFOR, EUFOR und UNIFIL enthalten ähnliche Formulierungen). Ein Rechtsstaat, der diesen Namen verdient, ist deshalb schon strukturell kriegsunfähig. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wird beim Einsatz militärischer Gewalt außer Kraft gesetzt. Die Bundeswehr ist entgegen Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr an das Recht gebunden. Obwohl dies doch nach Art. 79 Abs. 3 GG unzulässig ist. Durch den Einsatz entsteht eine ‑menschenrechtsfreie Zone".

Und weiter: wenn in § 11 Abs. 1 Satz 3 VStGB das Leben eines Menschen in ‑das Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil" gesetzt wird, ist das ganz offensichtlich verfassungswidrig. Das Leben eines Menschen kann zu nichts ins Verhältnis gesetzt werden. Diese Vorschrift tastet die Würde des Menschen nicht an, nein, schlimmer, sie ignoriert die Würde des Menschen, wenn sie sie militärischen Erfordernissen unterordnet.

Gewaltverbot

Die Regierung begründet das Mandat mit einer Legitimierung durch Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats. Bei Afghanistanfragen tritt der UN-Sicherheitsrat aber stets als Anwalt der Interessen seiner fünf ständigen Mitglieder auf. Deshalb kann er kein Recht sprechen. Erst recht nicht, wenn das Mandat so eklatant dem Gewaltverbot der UN-Charta widerspricht. Ich habe bereits mehrmals Gerichte in eigener Sache bemühen müssen. Ich war froh, dass dem Gericht ein unabhängiger Richter vorsaß und das Urteil nicht durch den gegnerischen Anwalt verkündet wurde. Wenn ich die Schriftsätze der gegnerischen Anwälte lese, und mir vorstelle, diese Formulierungen wären Urteil geworden, hätte ich dies nie als ‑Recht" anerkennen können.

Der Exekutivrat der Organisation für das Verbot chemischer Waffen oder der UN-Menschenrechtsrat, quasi kleine Pendants zum UN-Sicherheitsrat, bestehen aus jeweils 42 Mitgliedern, die gleichberechtigt sind und von Staatengruppen bestimmt werden. Sie fassen Beschlüsse über Sachfragen mit 2/3-Mehrheit. Diese Beschlüsse, beispielsweise, werden von der Weltgemeinschaft als unparteilich und damit auch als ‑Recht" anerkannt.

Folgende historische Parallelen drängen sich mir bei der Betrachtung der Frage weiterhin auf:

1914 zogen wir schon einmal, wie heute, wegen eines Attentats in den Krieg, auch damals mit Zustimmung des Parlaments. Hätte der Reichstag die Kriegskredite nicht bewilligt, wäre das Völkerschlachten sicher ausgeblieben. Stattdessen metzelten wir mit dem Slogan ‑Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Britt" die Völker und wurden dabei selbst gemetzelt. Die Dimensionen damals sind mit den heutigen natürlich nicht zu vergleichen, denn wir hatten und haben Glück: Afghanistan war 2001, anders als die kriegführenden Staaten während des 1. Weltkrieges, in keinem Verteidigungsbündnis. Im Gegenteil: Afghanistan gehörte, in der Hoffnung, dass dieser Status von den Großmächten respektiert würde, zu den Gründungsmitgliedern der ‑Bewegung der Nichtpaktgebundenen". Diese Hoffnung erwies sich, wie wir sahen, für die Afghanen als fataler Irrtum. Heute haben wir Deutsche uns mit unseren Nachbarvölkern ausgesöhnt. So, und nur so muss das auch mit den Taliban gelingen. Denn politische Lösungen lassen sich nicht mit militärischen Mitteln erzwingen.

1933 schaffte das Parlament nach dem Terroranschlag auf den Reichstag per Beschluss die Demokratie ab. Damals wurde das damit begründet, wir wären von einer ‑jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung" bedroht. Ein paar Jahre später schickte uns die Diktatur in den neuen Weltkrieg. Nach dem 11.09.2001 werden wir nun angeblich wieder bedroht. Die ‑jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung" heißt heute ‑internationaler Terrorismus". Die Demokratie wurde daraufhin noch nicht völlig abgeschafft, aber es wird durch Einschnitte in die Grundrechte heftig daran gearbeitet. Und in den Krieg schickt uns das Parlament nun direkt, ohne Umweg über eine Diktatur. Ist das ein Fortschritt?

1953, am 17. Juni, schlug die Rote Armee in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) einen Volksaufstand nieder. In diesem Zusammenhang sprach Bundespräsident Lübke 1963 bei der Proklamation des 17. Juni als nationalem Gedenktag erstmals von einem ‑Unrechtsstaat". In unserer DBZ in Afghanistan schlagen wir nun schon seit fast 10 Jahren ebenfalls einen Volksaufstand nieder. Es ist ein Aufstand des verletzten Stolzes. Und wir beantworten die Reaktionen der Afghanen mit immer neuen Demütigungen. Afghanistan wurde so zu unserem gesamtdeutschen 17. Juni!

1989 war ich als stellvertretender Kompaniechef in Prenzlau stationiert. Am 09. Oktober wurde die Kompanie in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Uns wurde gesagt, falls sich die konterrevolutionären Elemente nicht nur in Leipzig, sondern auch in Berlin zusammenrotten würden, würden wir zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung eingesetzt. Mit Schusswaffen. Es kam dann nicht dazu. Der Schießbefehl wurde nicht gegeben. Auch darüber bin ich heute froh. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. Sicher hätte ich auch da geschossen. Wer sich insgesamt an die gewaltfreie Umwälzung erinnert, die vor 20 Jahren zum Untergang der DDR führte, muss über die Bellizierung der heutigen deutschen Außenpolitik entsetzt sein. Ja, auch diese Revolution lehrt, friedlicher Wandel ist möglich. Er muss nur versucht werden. Auch mit den Taliban. Mit allen. ‑Wandel durch Annäherung!"

Die Gewaltaversion wird gerade zerstört

Die Gewaltaversion unserer Gesellschaft ist, so denke ich, eine große zivilisatorische Errungenschaft. Sie ist das Ergebnis des Entsetzens über die Gewaltorgien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Gewaltaversion wird gerade zerstört. Zerstört durch Vergessen. Sie kann nur durch ständige Anstrengung, durch Erinnerung an das, was war, und Vergleich mit dem, was heute ist, erhalten werden. Lassen wir es nicht zu, leichtfertig in die Barbarei der Vergangenheit zurückzufallen, wo das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit noch kein Grundrecht war.

Unsere Politik ist durch die Staatsraison blockiert. Die Bündnisverpflichtungen zwingen uns angeblich dazu, in den Krieg zu ziehen. Wenn es tatsächlich solche Verpflichtungen gäbe, hätten wir 1990 die NVA und später den Warschauer Pakt gar nicht auflösen dürfen. Denn solche Verpflichtungen gab es damals auch, und sie waren mit unseren heutigen durchaus vergleichbar.

Gehorsam verweigern!

Ich glaube inzwischen nicht mehr daran, dass von der Politik Abhilfe kommen wird. Deshalb bin ich fest davon überzeugt, dass wir dieses Verbrechen nur beenden können, wenn möglichst viele Soldaten den Gehorsam verweigern. Gegen die Beschlüsse offenbar gewissenloser Abgeordneter müssen wir aufstehen, indem wir unser eigenes Gewissen befragen und aktivieren. Ich möchte dazu aufrufen. Zumal es den Verweigerern (außer dem Verlust der täglichen 110 Euro Auslandsdienstzulage) keine Nachteile bringen dürfte.

Ob die Kämpfer der Taliban aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigern können, weiß ich nicht. Ich wage, es zu bezweifeln. Deshalb ist es an uns, zu handeln. Ich bin mir allerdings bewusst, meine Vorgesetzten würden mein Handeln als eine ungeheuerliche Provokation auffassen. Sie würden alles unternehmen, meine Tätigkeit zu behindern und zu sanktionieren. Ich kann mich damit trösten, dass heute niemand mehr wegen ‑Wehrkraftzersetzung" erschossen wird. Aber wenn man von den ‑Seinen" nicht mehr gut gelitten wird, kann die Arbeit zur täglichen Tortur werden. Auch die Masse meiner gleich- oder niedergestellten Kameraden wird entweder wegen des Gruppenzwangs oder der tief verwurzelten Überzeugung, wir täten ja das Rechte, mein Ansinnen ablehnen und meinen Argumenten gegenüber verschlossen bleiben.

Ich weiß nicht, was auf mich zukommt und wie und ob ich das aushalte. Aber ich habe geschworen ‑tapfer" zu sein und ‑das Recht zu verteidigen". Ich muss das tun, auch im Streit mit meinen Kameraden. Und wenn die Mehrheit der Meinung ist, ich wäre dann ein ‑Nestbeschmutzer", werde ich damit leben müssen. Mein Gewissen verlangt von mir, dafür zu sorgen, dass das ‑Nest" Bundeswehr wieder sauber wird.

Sehr geehrter Herr Dr. Dr. Erlinger, auch wenn die Länge der Ausführungen für die Veröffentlichung im SZ-Magazin mit Sicherheit ungeeignet ist, ich bitte Sie dennoch um Ihre Meinung.

Mit freundlichen Grüßen
R. Knauf


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Erstellt: 2011-01-25 15:12:12
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