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19.01.2009 Stellungnahme des "Bündnisses gegen die Schülerdatei" zur geplanten Einführung einer Schülerdatei für Berlin
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Stellungnahme des „Bündnisses gegen die Schülerdatei“ zur geplanten Einführung einer Schülerdatei für Berlin

 Das Thema Schülerdatei hat bereits Ende des vergangenen Jahres große öffentliche Aufmerksamkeit und Kontroversen ausgelöst. Das „Bündnis gegen die Schülerdatei" hat am 8.1.09 erstmalig den Protest auf die Straße getragen. Es besteht aus VertreterInnen von SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen und Bürgerrechtsorganisationen, wie dem Aktionsbündnis Freiheit statt Angst, dem AK Vorrat Berlin und Safer-Privacy.

Grundsätzlich ist zu sagen, daß der Prozeß der Gesetzgebung in diesem Fall wesentlich mehr Zeit für die Beratung mit Experten und Interessenvertretern benötigt und eine schnelle Verabschiedung vermieden werden sollte.

 

Einführung

Die automatisierte Schülerdatei sieht vor, dass von jedem Schüler ein Datensatz aus 16 personenbezogenen Einzelmerkmalen an den Schulen erhoben wird. Er enthält neben den Stammdaten eines Schülers, wie Name, Geburtsdatum, Jahrgangsstufe etc., auch Informationen über die Erziehungsberechtigten (deren Wohnanschrift, finanzielle Situation, Muttersprache), sowie umfangreiche Sozialdaten des Schülers: Lerngruppe, außerunterrichtliche Förderung und Betreuung, sonderpädagogischer Förderbedarf, schulärztliche Untersuchung, den Ausbildungsschwerpunkt und den konkreten Ausbildungsbetrieb von Berufsschülern, sowie Angaben zur Überwachung und Durchsetzung der Schulpflicht.

Diese Daten (und teilweise noch deutlich mehr, wie Schulnoten etc.) liegen den Schulen bereits jetzt vor. Der Unterschied besteht darin, dass der Zugriff auf diese Daten in Zukunft in einem automatisierten Verfahren, also ohne bewusste Einzelfallabwägung und von zentraler Stelle erfolgen soll: Die bezirklichen Schulämter bekommen Zugriff auf 11 der 16 Einzeldaten inklusive Klarnamen (und auf weitere vier in pseudonymisierter Form). Die Senatsverwaltung verwaltet eine Indexdatei, die mit den dezentralen Volltextdateien vernetzt ist. Es handelt sich also faktisch um eine Zentraldatei, auch wenn dieser Begriff im Gesetzestext tunlichst vermieden wird.

Die zentralisierte Speicherung macht die Daten extrem anfällig für Datenmissbrauch jeder Art und kann illegal (durch Datenhandel, Hackerangriffe oder Fahrlässigkeit), aber auch legal (durch die Erweiterung der Zugriffsrechte von zukünftige Regierungen) zur Erstellung detaillierter Personenprofile genutzt werden.

Gleichzeitig wird mit den vorliegenden Gesetzesentwürfen die pädagogische Aufgabe der Erziehung und Durchsetzung der Schulpflicht verstärkt als ordungs- und sicherheitspolitische Aufgabe definiert. Dies scheint Teil eines bedenklichen Trends der „Verpolizeilichung des Zivilen zu sein, den wir als Zivilgesellschaft kritisch sehen müssen.

 

Grundsätzliche Kritik

Der aktuelle Gesetzesentwurf sieht auch nach dem von Linksfraktion und SPD-Fraktion am 12. Januar 2009 eingebrachten Änderungsantrag keine wesentlichen Verbesserungen vor:

  • Es macht technisch keinen nennenswerten Unterschied, ob Daten zentral oder dezentral mit zentralisiertem Zugriff gespeichert werden.

  • Der Wegfall des Zugriffs durch die Polizei bei „konkreter Gefahr“ stellt keine Verbesserung dar. Die Polizei darf auf Basis des ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) und der aktuell gültigen Schulverordnung bereits jetzt zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf an den Schulen lagernde Daten zugreifen. Die zentrale Indexdatei macht den Zugriff im Vergleich zum jetzigen Verfahren leichter, da über die zentrale Abfragestelle sofort die zuständige Schule ermittelt werden kann.

  • Die Gefahr besteht, daß SchülerInnen ohne Aufenthaltsstatus („sans papieres“) durch die zentralisierte Struktur leichter entdeckt und abgeschoben werden können. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, daß Eltern solcher Kinder unabhängig von der realen Entdeckungsgefahr auf Basis eines subjektiven Gefährdungsempfindens, ihre Kinder nicht mehr anmelden.

  • Das Argument der verbesserten Ressourcenplanung lässt sich bei näherer Betrachtung nicht halten: Mit oder ohne zentralisierte Individualerfassung enthält das System Unwägbarkeiten.
    So muss eine vernünftige Lehrerzuteilung an einzelne Schulen ca. 3 Monate vor Beginn des Schuljahres abgeschlossen sein. Die Anmeldefristen für die Schulwahl aber sind wesentlich kürzer. Doppelanmeldungen lassen sich weder vermeiden, noch wesentlich frühzeitiger herausfiltern.

  • Für die verbesserte Ressourcenplanung ist es lediglich erforderlich, daß die Schulen die relevanten Daten dezentral nach standardisiertem Verfahren erfassen und diese aggregiert an die Senats- und Bezirksverwaltungen weitergeben. Individualisierte Datensätze sind wegen der oben dargestellten Unwägbarkeit nicht notwendig und führen zu keiner Verbesserung bei der Erstellung der Planungsstatistik.

  • Schulschwänzer und straffällig gewordene SchülerInnen werden bisher auf bezirklicher/lokaler Ebene im Verbund von Jugendgerichten, Jugend- und Gesundheitsämtern, Schulen, Lehrern, Eltern und Sozialarbeitern betreut. Nur auf dieser Ebene finden sich Ansätze, psycho-soziale Parameter günstig zu beeinflussen. Eine Standardisierung in der Datenerhebung und -Verwaltung auf dieser Ebene allein würde die Effektivierung der Arbeit der involvierten Parteien auf bezirklicher Ebene, aber auch in Fällen von bezirksübergreifender Arbeit erheblich verbessern.

  • Eine Aufweichung der Nutzungs- und Zugriffsbeschränkungen kann in Zukunft bei einer zentralisierten Struktur schnell dazu führen, daß Rasterfahndungen oder ähnliche Maßnahmen ermöglicht werden. Dies muss möglichst bereits im Ansatz durch das Vermeiden einer so nutzbaren organisatorischen und technischen Infrastruktur ausgeschloßen sein.

  • Es ist unklar, inwieweit die aktuellen Gesetzesentwürfe die Verarbeitung und Weitergabe der sensiblen personenbezogenen Daten bei der Erhebung der Schulstatistik im Rahmen der gültigen Schuldateienverordnung betreffen.

 

Grundrechtliche, ausführliche Anmerkungen

  • Die „Schülerdatei" behindert das Menschenrecht auf Bildung

    Sie kann illegalisiert in Deutschland lebende SchülerInnen aus Angst vor Abschiebung vom Schulbesuch abschrecken und ihnen somit Integrations- und Zukunftschancen nehmen. Niemand kann den Betroffenen garantieren, dass ihre Daten nicht irgendwann – vielleicht unter anderen politischen Konstellationen – doch an die Ausländerbehörde weitergegeben werden.

    In Hamburg hat das Schülerzentralregister bereits zur Aufdeckung illegalisierter Schüler geführt, die jetzt auf ihre Abschiebung warten, wie das Nachrichtenmagazin FAKT im vergangenen Monat berichtete (FAKT vom 15.12.2008). Diese Fälle werden auch Berliner SchülerInnen bei Einführung einer Schülerdatei vom Schulbesuch abschrecken.

  • Die „Schülerdatei" gefährdet das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit

    Wer nicht beeinflussen kann, welche Informationen bezüglich seines Verhaltens gespeichert und weitergegeben werden, wird aus Vorsicht sein Verhalten anpassen. Dies beeinträchtigt nicht nur die individuelle Handlungsfreiheit sondern auch das Gemeinwohl, da ein freiheitlich demokratisches Gemeinwesen der selbstbestimmten Mitwirkung seiner Bürger bedarf.

  • Die „Schülerdatei" beschränkt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung

    Der Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten und das Recht, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen, sind mit der „Schülerdatei" nicht gewährleistet.

 

  • Die „Schülerdatei" bedroht den Gleichheits- und den Antidiskriminierungsgrundsatz

    Des weiteren wird die Schülerdatei, durch die Bekanntgabe von Informationen zu Schulleistungen, Migrationshintergrund, Schichtzugehörigkeit und Verhaltensauffälligkeiten an die Schulen, an denen sich ein Schüler anmelden möchte, den bestehenden Trend zur sozialen und ethnischen Segregation im Berliner Schulsystem noch verstärken. Solche Schulen, die auf ein homogenes und für eine Bildungsbürgerschicht attraktives Schülermillieu zielen, werden es in Zukunft noch leichter haben, die Schüler entsprechend sozialen, ethnischen und Leistungskriterien auszusondern. Dieser Stigmatisierungs- und Ausschlusseffekt steht im diametralen Gegensatz zur linken Idee der Gemeinschaftsschule.

 

Sozio-kulturelle Anmerkungen

  • Schließlich ist die geplante Ausweitung von Polizeiaufgaben, wie sie aus dem Gesetz (in Zusammenhang mit dem ASOG) resultiert, inakzeptabel. Schulschwänzer werden zu einem Bedrohungsszenario, dem man mit Polizei begegnen muss. Zu der Aufgabe der Polizei würde es, „auf Verdacht“ Jugendliche aufzugreifen. Ein unterrichtsfreier Nachmittag wird somit zum Spießroutenlauf unter Generalverdacht. SchülerInnen werden kriminalisiert und durch die Datenspeicherung dauerhaft stigmatisiert.

  • Um „notorischer Schulabstinenz“, sowie „Jugendkriminalität“ effektiv zu begegnen, sind integrierte Konzepte notwendig, in denen effektive Gewaltprävention, soziale, psychologische, pädagogische und kulturelle Maßnahmen ineinandergreifen. Hier ist eine bessere Vernetzung von Sozialarbeit, Lehrkräften, Eltern, TrainerInnen, SchülerInnen, sowie den Einrichtungen der Jugendhilfe, Jugendarbeit, Jugendämter etc. gefragt. Derartige Maßnahmen sind einer polizeilichen Präventiv- oder Repressionslogik immer vorzuziehen.

 

Schlussbemerkung

Eine Datenvermeidung ist der Datenerhebung und -Verarbeitung immer vorzuziehen. In diesem Fall wird keinerlei Effizienzsteigerung in der Schul- und Ressourcenverwaltung durch eine zentrale oder zentralisierte Schülerdatei erzielt.

Wir schlagen eine Normierung der Datenerhebung und der dabei verwendeten Verfahren inklusive der benutzten Hard- und Software in den Schulen vor. An zentrale Stellen sind nur aggregiert bzw. kumulierte Daten weiterzugeben, Individualdaten sind dezentral zu speichern ohne die Möglichkeit einer zentralisierten Abfrage.Der Aufgabenerfüllung auf bezirklicher Ebene durch Jugendämter, Jugendgerichtsbarkeit, Sozialarbeit, Schulen und ErzieherInnen dient bereits eine normierte und einheitliche Datenverarbeitung auf bezirklicher Ebene, da hierdurch der auf dieser Ebene im Einzelfall notwendige Datenaustausch erheblich erleichtert werden könnte.


 

Weitere Ressourcen

 


Das Bündnis gegen die Schülerdatei besteht aus besteht aus folgenden Organisationen:

  • Aktionsbündnis Freiheit statt Angst
  • AK Vorrat Berlin
  • Erziehungspflicht.de
  • Grüne Jugend Berlin
  • SchülerInnen-Initiative
  • Junge Presse Berlin e.V.
  • Kampagne SAFER PRIVACY der JungdemokratINNen / Junge Linke
  • LandesSchüler_innen Vertretung (LSV) Berlin
  • Netzwerk Förderkinder Berlin

 


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