Offener Brief der Zivilgesellschaft und ein kritisches EuGH Urteil
Gerade rechtzeitig haben über 40 NGOs aus Europa, darunter auch Aktion Freiheit statt Angst, an mehrere EU KommissarInnen geschrieben und haben vor neuen Plänen zu einer europäischen Vorratsdatenspeicherung (VDS) gewarnt. Leider hat nun gestern der EuGH ein weiteres Urteil zur VDS gefällt, in dem er die bisherige Linie eines generellen Verbots von anlassloser Datenspeicherung aufweicht.
Die nun erzeugte Lücke ist zwar eng, z.B.
- muss ein EU-Staat sich ernsthaft bedroht fühlen und
- ein Richter muss den Grundrechtseingriff genehmigen und
- die Maßnahme darf nur so lange wie unbedingt erforderlich durchgeführt werden.
Na ja, das kennen wir mit der seit 20 Jahren verbreiteten Terrorangst - d.h. also immer. Polen, Ungarn, Italien, u.a. fühlen sich schon durch einige Flüchtlinge bedroht. Die Salami wird weiter abgeschnitten ...
Patrick Breyer, Bürgerrechtler und Europaabgeordneter der Piratenpartei, erklärt zu den heutigen EuGH-Urteilen zur Vorratsdatenspeicherung:
“Unter dem massiven Druck der Regierungen und Eingriffsbehörden haben die Richterinnen und Richter unseren Schutz vor verdachtsloser Kommunikationserfassung in Teilen aufgegeben: Die zugelassene IP-Vorratsdatenspeicherung ermöglicht es, die private Internetnutzung von Normalbürgern auf Monate hinaus zu durchleuchten. Straftäter können diese Totalerfassung mit Anonymisierungsdiensten leicht umgehen, aber den Normalnutzer macht sie gläsern. Auch die heute eingeschränkt zugelassene Vorratsspeicherung persönlicher Kontakte und Bewegungen hat einer aktuellen Studie zufolge keinerlei messbare Wirkung auf die Aufklärung schwerer Straftaten, verhindert aber vertrauliche Beratung etwa durch Anwälte und bedroht die freie Presse, die auf anonyme Whistleblower angewiesen ist.“
Deshalb fordert die europäische Zivilgesellschaft in ihrem Offenen Brief:
- Das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, gegen das bereits 2016 Verfassungsbeschwerde eingelegt wurde, darf kein Vorbild für die EU und andere Länder werden.
- Die Kommission soll Verfahren gegen EU-Mitgliedsländer anstrengen, die mit ihren Gesetzen und Praktiken Kommunikationsdaten auf Vorrat speichern.
- Die Unterzeichnenden des Briefs fordern die Kommission auf, an einem EU-weiten Verbot von genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung zu arbeiten.
- Die Kommission soll keine weiteren Pläne zur Wiedereinführung von Vorratsdatenspeicherung verfolgen.
Der Offene Brief in deutscher Übersetzung:
Sehr geehrte Frau Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres;
sehr geehrter Herr Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt;
sehr geehrter Herr Didier Reynders, EU-Justizkommissar und
sehr geehrte Frau Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales
Wir sind zutiefst beunruhigt über Erklärungen [1], dass die Kommission beabsichtigt, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten zu prüfen, sobald die Urteile in noch ausstehenden Fällen ergangen sind. Am 9. Dezember 2019 sagte Kommissarin Johansson [2]: „Ich denke schon, dass wir ein Gesetz für die Vorratsdatenspeicherung brauchen“. Eine Studie über „mögliche Lösungen für die Vorratsspeicherung von Daten“ wurde in Auftrag gegeben. Die deutsche Grundrechts- und Datenschutzorganisation Digitalcourage hält das Design der Studie [3] für voreingenommen, da es die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation nicht berücksichtigt.
Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten ist das am stärksten in die Privatsphäre eingreifende Instrument und möglicherweise die unbeliebteste Überwachungsmaßnahme, die jemals von der EU verabschiedet wurde. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schrieb die umfassende Erfassung sensibler Daten zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Notrufnummern usw.) von 500 Millionen Europäerinnen und Europäern vor, die keiner Straftat verdächtigt werden.
In seinem Urteil vom 8. April 2014 setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung außer Kraft, die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet hatte, Daten über die Kommunikation aller ihrer Kunden zu speichern. Sie ist aber in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union noch immer in nationales Recht umgesetzt.
Wir sind der Überzeugung, dass eine derartig invasive Überwachung der gesamten Bevölkerung nicht akzeptabel ist. Mit einer Regelung zur Datenspeicherung werden sensible Informationen zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und das Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Helplines usw.) von Millionen von Europäerinnen und Europäern gesammelt, ohne Vorliegen von individuellen Verdachtsmomenten. Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft als schädlich erwiesen. Die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten untergräbt das Berufsgeheimnis, schafft die ständige Gefahr von Datenverlusten und Datenmissbrauch und hält die Bürger davon ab, vertrauliche Kommunikation über elektronische Netze zu führen. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und schwächt damit die Pressefreiheit. Insgesamt beschädigt sie die Grundlagen unserer offenen und demokratischen Gesellschaft. Da es in den meisten Ländern kein finanzielles Entschädigungssystem gibt, müssen die enormen Kosten einer Regelung zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten von den Tausenden betroffenen Telekommunikationsanbietern getragen werden. Dies führt zu Preiserhöhungen und zur Einstellung von Diensten, wodurch die Verbraucher indirekt belastet werden.
Studien [4] belegen, dass bereits die ohne Vorratsdatenspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Eine umfassende Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig erwiesen, z.B. in Österreich, Belgien, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Schweden. Diese Staaten verfolgen die Kriminalität ebenso effektiv mit der gezielten Sammlung von Verkehrsdaten, die für individuelle Ermittlungen benötigt werden, wie z.B. den im Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität vereinbarte Rechtsrahmen zur Sicherung gespeicherter Daten.
Wir argumentieren, dass das aktuelle deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht als Vorbild für die EU angesehen werden darf. Erstens sind verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz anhängig und zweitens verfolgt das deutsche Gesetz den gleichen grundsätzlich riskanten Ansatz, Daten über alle Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich und ohne Rücksicht auf individuellen Verdacht, Bedrohung oder Bedarf zu erheben.
Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten einen verbesserten Schutz vor Kriminalität bietet. Auf der anderen Seite sehen wir, dass sie Milliarden von Euro kostet, die Privatsphäre Unschuldiger gefährdet, vertrauliche Kommunikation beeinträchtigt und den Weg für eine immer größere Massenanhäufung von Informationen über die gesamte Bevölkerung ebnet. Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Fachleute und der Industrie lehnen wir gemeinsam die generelle Speicherung von Telekommunikationsdaten ab. Wir fordern Sie dringend auf, keine Versuche zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten zu unternehmen. Gleichzeitig appellieren wir an Sie, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um sicherzustellen, dass die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in allen betroffenen Mitgliedsstaaten aufgehoben werden. Darüber hinaus rufen wir Sie dazu auf, sich für ein EU-weites Verbot genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, die die Aktivitäten von Menschen erfassen. Wir fordern Sie auf, den europäischen Weg weiterzuentwickeln mit dem Ziel einer EU, die frei von invasiver Überwachung ist.
Wir würden uns freuen, die Angelegenheit mit Ihnen persönlich zu besprechen, zu einem für Sie passenden Termin.
Mit freundlichen Grüßen
– – – – –
[1] https://www.europarl.europa.eu/RegData/questions/reponses_qe/2020/000389/P9_RE(2020)000389_EN.pdf
[2] https://www.europarl.europa.eu/RegData/questions/reponses_qe/2019/004385/P9_RE(2019)004385_EN.pdf
[3] https://digitalcourage.de/blog/2020/data-retention-biased-study-by-the-eu-commission
https://digitalcourage.de/blog/2020/vorratsdatenspeicherung-einseitige-studie-der-eu-kommission
[4] EDRi: Data Retention Booklet: https://edri.org/our-work/launch-of-data-retention-revisited-booklet/
Mehr dazu bei https://digitalcourage.de/blog/2020/offener-Brief-Vorratsdatenspeicherung
und der offene Brief im englischen Original https://digitalcourage.de/sites/default/files/2020-10/joint-ngo-letter-data-retention-06-10-2020_0.pdf
und die Erklärung von Patrick Breyer zum EuGH Urteil https://www.patrick-breyer.de/?p=593237#StopptDieVorratsdatenspeicherung
und https://www.patrick-breyer.de/?p=593244&lang=en#StopDataRetention
und die Pressemitteilung des EuGH zu seinem Urteil https://curia.europa.eu/jcms/jcms/p1_3252442/de/
und die Reaktionen der ewig Gestrigen aus Bayern
Bayerns Innenminister https://www.bayern.de/herrmann-eugh-urteil-zur-vorratsdatenspeicherung/?seite=1579
Bayerns Justizminister https://www.bayern.de/bayern-fordert-die-rasche-wiederbelebung-der-verkehrsdatenspeicherung-in-deutschland-justizminister-eisenreich-das-heutige-eugh-urteil-eroeffnet-spielraeume-fuer-die-verkehrsdatenspeicherung-die/?seite=1579
und das Handelsblatt https://www.handelsblatt.com/dpa/konjunktur/wirtschaft-handel-und-finanzen-bayern-nach-eu-urteil-schnell-vorratsdatenspeicherung-wieder-nutzen/26250114.html?ticket=ST-3672634-9sSuvJT9sO3BfZf0qB12-ap2
Kategorie[27]: Polizei&Geheimdienste Short-Link dieser Seite: a-fsa.de/d/3c6
Link zu dieser Seite: https://www.aktion-freiheitstattangst.org/de/articles/7414-20201007-gezielt-ermitteln-statt-total-erfassen.htm
Link im Tor-Netzwerk: http://a6pdp5vmmw4zm5tifrc3qo2pyz7mvnk4zzimpesnckvzinubzmioddad.onion/de/articles/7414-20201007-gezielt-ermitteln-statt-total-erfassen.htm
Tags: #VDS #EuGH #Urteil #Lauschangriff #Überwachung #Vorratsdatenspeicherung #Videoüberwachung #Rasterfahndung #Datenbanken #Entry-ExitSystem #eBorder #Freizügigkeit #Unschuldsvermutung #Verhaltensänderung #OffenerBrief #EUKommissare #NGOs
Erstellt: 2020-10-07 07:57:50 Aufrufe: 1121
Kommentar abgeben