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Es gibt viel zu tun - packen wir's an
Zum Abschneiden der Regierenden:
Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?
Berthold Brecht in dem Gedicht: "Die Lösung" | ... und zum Abschneiden der AfD:
"Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."
Berthold Brecht in "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui"
| Wir haben in den letzten Monaten in diversen Artikeln zur mangelhaften, teilweise grundrechtswidrigen Politik in diesem Land Stellung bezogen und versucht auf notwendige Änderungen hinzuweisen, deshalb verzichten wir auf eine eigene Stellungnahme zum Wahlergebnis (s. Bundeskanzlerin für unzulässige Videoüberwachung , eGovernment als Wahlversprechen ohne Inhalt , Verfassungsbeschwerde gegen Ausweiszwang beim SIM Karten Kauf , Verbraucherschützer fordern Recht auf "analoges Wohnen" , Bedienung der neuen Stromzähler entsetzt Stromkunden , "CETA kann auf dem Scherbenhaufen der Grünen blühen" , Erste Antworten auf unsere Wahlprüfsteine , Flüchtlings- und Menschenrechte-verteidigen! , Am Sonntag gegen den allwissenden Staat abstimmen! , Vorletzter (Wahl-) Aufruf ).
Stattdessen dokumentieren wir hier eine Einschätzung, die uns von Campact erreichte (auch wenn uns darin Ideen zur Hilfe für Flüchtende und zu einer europäischen Friedenspolitk fehlen):
Lieber Rainer Hammerschmidt,
das sitzt: Die AfD ist zweistellig im Bundestag. Die SPD schließt eine Große Koalition aus. Die einzig realistische Koalitionsoption: Jamaika. Bedeutet das Schwarz-Gelb mit grünem Anstrich? Ist alle Hoffnung auf progressive Politikideen - die Bürgerversicherung und eine faire Rente, einem konsequenten Kohleausstieg und eine Agrarwende - dahin?
Das Wahlergebnis kann Menschen mit progressiven Werten nur erschüttern. Aber bei allem berechtigten Entsetzen ist es wichtig, sich deutlich zu machen: Die langfristigen Auswirkungen sind von uns zumindest noch beeinflussbar. Und es ergeben sich sogar kurz- oder mittelfristig ein paar Chancen - je nachdem,i in welche Richtung das Land nach der Wahl geht. ...
1. Rezepte gegen die AfD finden
Es ist entsetzlich und schwer zu begreifen: Die AfD hat 12,6 Prozent erhalten. Sie stellt im neuen Bundestag die drittstärkste Fraktion. In Sachsen landete sie auf dem ersten, in den meisten ostdeutschen Bundesländern auf dem zweiten Platz. All dies könnte ihr massiv Auftrieb geben. 94 AfD-Abgeordnete werden im Bundestag Platz nehmen, dutzende von ihnen mit klar rechtsextremer Gesinnung. Das Wahlergebnis spült Millionen in die Kassen von Partei und Fraktion und beschert ihr hunderte parlamentarische Mitarbeiter/innen, die für Hass und Hetze bezahlt werden.
Die Wähler und Wählerinnen der AfD lassen sich in drei Gruppen einteilen. Zunächst sind da die wirklich überzeugten Anhänger/innen. Von ihnen haben die meisten in der Vergangenheit schon rechtsextrem gewählt - sie unterstützen den Hass und Rassismus, den viele AfD-Politiker/innen verbreiten. Ihnen gegenüber steht die deutlich größere Gruppe der Enttäuschten oder Protestwähler/innen, die die AfD eher trotz als wegen ihres Rassismus wählen. Diese Gruppe zerfällt wiederum in zwei Teile: konservativ-bürgerliche Wähler/innen, die sich von der unter Merkel deutlich liberaler gewordenen CDU verraten fühlen - und mit der Ehe für alle, dem Ausbau der Krippenplätze und der Stärkung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt fremdeln. Und eher abgehängte Milieus, die sich von der Politik mit Digitalisierung, Globalisierung und Migration allein gelassen fühlen. Hierzu zählen insbesondere Arbeiter und Arbeiterinnen, die von der neoliberalen Politik der Agenda-SPD nachhaltig verunsichert sind.
Alle drei Gruppen von AfD-Wähler/innen verbindet eine tiefe Skepsis gegenüber den Eliten aus Politik, Medien und Wirtschaft. Diese Skepsis und Ablehnung sind völlig überzogen, aber sie werden genährt durch reale Missstände. Die Chance, diese zu bekämpfen, haben die vergangenen drei Bundesregierungen unter Merkel nicht genutzt: Transparenz und Obergrenzen für Nebeneinkünfte von Abgeordneten, schärfere Regeln für Lobbyismus und Parteispenden hat die Union verhindert. Eine ähnliche Haltung der SPD und CDU/CSU zeigt sich bei den Demonstrationen gegen TTIP und CETA. Sie saßen den Protest einfach aus. Hunderttausende strömten auf die Straße - Konsequenzen blieben aus.
Aber auch wir Progressiven - Campact eingeschlossen - haben bislang kein wirksames Mittel gegen den wachsenden Rechtspopulismus gefunden. Das Dilemma: Springt man auf jede Provokation an, macht man die AfD nur bekannter und hilft ihr, sich als Opfer der "links-versifften 68er" zu gebärden. Lässt man sie aber gewähren, wird Hetze zur Normalität. Mit dem Einzug der Radikalen in den Bundestag stellt sich die Frage, wie wir mit demokratisch gewählten Feinden einer offenen Gesellschaft umgehen. Wir werden uns immer wieder neu fragen müssen, was richtig und angemessen ist.
Dass die AfD nicht unbezwingbar ist, zeigt eine Entwicklung zu Jahresbeginn: Innerhalb weniger Wochen halbierten sich ihre Umfragewerte.[1] Björn Höcke lenkte mit seiner Rede zum Holocaust-Mahnmal den Blick darauf, welches Nazi-Gedankengut in der AfD geduldet wird. Das war vielen Wähler/innen dann doch zu viel. Gleichzeitig keimte mit dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz und seinem Versprechen von mehr sozialer Gerechtigkeit kurzzeitig eine echte Alternative auf.
Vielleicht lässt sich hier erfolgreich ansetzen: Im neuen Bundestag werden etliche Höckes sitzen. Äußerungen, die sie als rechtsradikal entlarven, müssen wir verbreiten. Und als das benennen, was sie sind: Nazi-Sprech und Nazi-Gedankengut. Damit können wir die Zweifel bürgerlicher Wähler/innen nähren, ob sie diese Partei wirklich unterstützen wollen. Wie viel Sprengkraft hier für die AfD besteht, zeigt der Paukenschlag von heute Morgen: Parteichefin Frauke Petry will der neuen AfD-Fraktion im Bundestag nicht angehören - wegen der rassistischen Äußerungen von Parteimitgliedern und der fehlenden Abgrenzung der Parteispitze diesen gegenüber.
Was es als zweites braucht ist die Arbeit an progressiven Politikentwürfen. Der Schulz-Hype hat gezeigt: Viele Menschen haben den Eindruck, dass es in diesem Land nicht gerecht zugeht – und sehnen sich nach Alternativen. Schulz konnte diese Alternative nicht glaubhaft verkörpern und versäumte, seinen Ruf nach mehr sozialer Gerechtigkeit mit klaren Forderungen zu untermauern. Aber er deutete an, wie es gehen kann: mit einem klaren progressiven Gegenentwurf den Rechten die Stimmen abspenstig machen.
2. Die Chance oder der Fluch von Jamaika
Jamaika - ein Vierer-Bündnis aus CDU, CSU, Grünen und FDP. In allen Umfragen ist diese Koalition eine der unbeliebtesten Konstellationen.[2] Doch es bleibt die einzige Option, die noch im Raum steht, nachdem die SPD der Großen Koalition eine klare Absage erteilt hat. Durch viele Rückmeldungen wissen wir: Auch unter den Campact-Aktiven ist Jamaika sehr umstritten. ...
Die Positionen bei Kernthemen der beiden Parteien liegen diametral auseinander. Und nicht viel einfacher wird es mit Horst Seehofers CSU, die nächstes Jahr in Bayern die absolute Mehrheit holen will und die AfD im Nacken hat.
Immerhin in einem Themenfeld könnte es gelingen, progressive Inhalte mit Jamaika durchzusetzen: bei der Ökologie. Warum? Weil die grüne Basis Jamaika sehr skeptisch gegenübersteht. Ohne einen konsequenten Kohleausstieg und einen schnellen Ausbau der Erneuerbaren, ohne den Abschied vom Verbrennungsmotor und einer Agrarwende brauchen Cem Özdemir, Katrin Göring-Eckardt und Co. den Koalitionsvertrag keinem grünen Mitgliederentscheid vorlegen. Ernst machen beim Klimaschutz - eigentlich sollte das auch in Merkels Interesse sein: Nach einer neuen Studie wird Deutschland sein Klimaschutzziel für 2020 krachend verfehlen, wenn nicht massiv umgesteuert wird.[3] Nur mit grüner Politik kann sie verhindern, als "Klimakanzlerin" international blamiert dazustehen.
Doch Jamaika birgt auch ein fatales Risiko: Dass die Grünen sich alleine auf die Frage der Ökologie verlegen und andere Fragen aus dem Auge verlieren. Besonders Europa. Wer im Wahlkampf beobachtet hat, was Christian Lindner und sein Wahlprogramm fordern, dem wird Angst und Bange. Mit der FDP in der Regierung könnte die Euro-Krise zurückkehren.[4] Was die Lindner-Truppe will? Griechenland aus dem Euro werfen. ...
Wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam Europa demokratischer und solidarischer gestalten würden, wäre das eine große Chance. Doch mit der FDP an der Regierung wird das schwer. "Macrons Albtraum" - so bezeichnete die französische Tageszeitung Le Monde eine Regierungsbeteiligung der Liberalen in Deutschland.[6] Die Konsequenz muss sein: Die Grünen dürfen nur einer Regierung beitreten, die klar ihre Vorschläge aus dem Wahlkampf für mehr Demokratie und Solidarität in Europa umsetzt.
Als drittes ist zentral: Sozialpolitisch muss Jamaika liefern. Besonders wenn so viele Menschen den Eindruck haben, dass es in diesem Land nicht gerecht zugeht und auch darum AfD wählen. Kinderarmut, die katastrophalen Zustände in der Pflege, die Zwei-Klassen-Medizin, das zunehmende Armutsrisiko im Alter, die Schere zwischen Arm und Reich - all das schreit zum Himmel. Eine Bürgerversicherung, ein entschiedenes Vorgehen gegen Steuerflucht, eine Mindestrente: Es braucht konkrete Projekte.
Die verpatzte Einführung der rot-grünen Ökosteuer vor bald zwanzig Jahren hat gezeigt: Die ökologische und die soziale Frage müssen gemeinsam beantwortet werden. Wenn mehr öko mehr kostet, muss das sozialpolitisch abgefedert und ausgeglichen werden - sonst fehlt schnell der gesellschaftliche Rückhalt.
Sollte Jamaika wirklich kommen, ist für Campact klar: Bei CETA werden wir die Grünen an ihren Versprechen aus Oppositionszeiten messen. Als im letzten Jahr Hunderttausende die Straßen beim Protest gegen das neoliberale EU-Handelsabkommen mit Kanada füllten, war die Öko-Partei in vorderster Reihe dabei. Jetzt darf sie nicht den Winfried Kretschmann machen, der als grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg CETA schönredet - und dabei lieber nicht so genau in den Vertragstext schaut.[7] Womöglich wird schon nächstes Jahr im Bundestag über die Ratifizierung von CETA entschieden. Die Grünen müssen weiter klar Nein sagen. Zudem braucht es Standards für neue Handelsverträge: Schiedsgerichte müssen der Vergangenheit angehören, die Verhandlungen transparent geführt und hohe Sozial- und Umweltstandards verankert werden. ...
Fatal wäre es, wenn die Koalitionäre und besonders die Grünen aus Machtwillen und persönlichen Ambitionen die Regierungsbeteiligung suchen, während progressive Inhalte fehlen oder unkonkret bleiben. Gibt ein Koalitionsvertrag das nicht her, könnte ein Scheitern von Jamaika die bessere Option sein.
3. SPD - Neuanfang gefragt
Mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte sind die Sozialdemokraten gestern über die Ziellinie gegangen. Nach dem Schulz-Hype, bei dem sich die SPD sogar mit der Union auf Augenhöhe bewegte, stürzt sie jetzt so tief wie noch nie. Immerhin hat die SPD gestern konsequent gehandelt. Unmittelbar nach den ersten Prognosen kündigte sie an, in die Opposition zu gehen und sich dort zu erneuern.
2009 sah sich die SPD mit einem ähnlich desaströsen Ergebnis konfrontiert und verpasste den Neuanfang. Läuft es diesmal anders? SPD-Chef Martin Schulz macht zumindest einfach weiter - ein personeller Neubeginn sieht anders aus. Und inhaltlich? Hier muss die SPD endlich den Mut finden, sich grundlegend neu auszurichten.
Am dringendsten müssen die Sozialdemokraten endlich ihr Verhältnis zur Agenda 2010 klären - und auf Distanz gehen. Im Wahlkampf waren ihre Signale äußerst verwirrend: Einerseits forderte Schulz Korrekturen ein, um kurz danach auf dem Parteitag Agenda-Kanzler Gerhard Schröder zu feiern. Das wirkt nicht so, als hätte sie aus alten Fehlern gelernt.
Zum zweiten müssen sie ihren Markenkern - die soziale Gerechtigkeit - mit Leben, klaren Projekten und zugespitzten Botschaften füllen. Schulz hat gezeigt, auf wieviel Resonanz das Thema stößt. Aber er hat es versäumt, es inhaltlich-programmatisch zu unterfüttern - aus Angst, Wähler/innen aus der Mitte zu verlieren. So wirkte seine Botschaft "mehr Sicherheit für alle durch mehr soziale Gerechtigkeit und Solidarität" schnell hohl. Viel zu spät schob er einige unambitionierte und halbherzige Konzepte etwa zu einer Solidarrente oder Investitionen in Bildung und Infrastruktur nach. Nicht nur Merkel hat bei dieser Wahl die eigene Anhängerschaft mangels klarer Konzepte und Botschaften demobilisiert. Schulz und die SPD haben es ihr gleich getan.
Dass es anders geht, wie man junge Leute erreicht und eine gesellschaftliche Bewegung formt - das haben Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA eindrucksvoll bewiesen. Klare Botschaften, ein frischer Auftritt sowie ein konsequentes und ambitioniertes Programm - das bringt Begeisterung und Dynamik in den Wahlkampf. Eine Sozialdemokratie, die ein klar linkes Profil zurückgewinnt und sich dazu auch personell neu aufstellt, kann auch wieder Wahlen gewinnen.
Zum dritten hat die damalige SPD-Führung die größte soziale Bewegung der letzten Jahrzehnte sträflich übergangen - den hundertausendenfachen Protest gegen neoliberale Handelsabkommen wie TTIP, CETA und JEFTA. Und das obwohl relevante Teile der SPD-Basis Teil dieser Bewegung sind. Statt mit der Bewegung für höhere Sozial- und Umweltstandards und gegen Konzernmacht zu streiten, folgte die SPD-Führung blind dem Irrkurs des damaligen Wirtschaftsministers und SPD-Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel. Eine SPD, die jetzt in die Opposition geht, sollte mit dem Neuanfang gleich ganz konkret beginnen - ihre Positionierung zu konzernfreundlichen Handelsabkommen neu bestimmen. Zumindest sollte sie die eigenen roten Linien erst nehmen und CETA in derzeitiger Form ablehnen.
...
Mit herzlichen Grüßen
Campact
Artilleriestraße 6
27283 Verden
[1] "Warum die AfD in der Abwärtsspirale steckt", RP Online, 5. Juli 2017
[2] "Keiner will nach Jamaika", Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 24. September 2017
[3] www.agora-energiewende.de, Pressemeldung vom 7. September 2017
[4] "Christian Lindner, der Schreck der europäischen Finanzmärkte", Süddeutsche Zeitung Online, 12. September 2017
[5] "Warum uns mit Merkels Praktikant die Krise droht", Spiegel Online, 8. September 2017
[6] "Albtraum für Europa", Süddeutsche Zeitung Online, 21. September 2017
[7] "Die Front gegen Ceta bröckelt", Die Tageszeitung Online, 27. Mai 2016
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