17.11.2010 "Quick Freeze" vs "Vorratsdatenspeicherung light" Teil 2

17.11.2010: Offener Brief des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung an den Bundesbeauftragten für den Datenschutz

Den Kompromissvorschlag für eine "Vorratsdatenspeicherung light" des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar hat der AK Vorrat in einem offenem Brief ebenfalls im Unterschied zu einem "Quick Freeze" näher beleuchtet:

Sehr geehrter Herr Schaar,

nach einem erfreulich klaren Beschluss aus diesem Jahr "lehnt die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich ab." Zuletzt Anfang November 2010 haben die Datenschutzbeauftragten diese Position bekräftigt und festgestellt, angesichts der Forderungen von Sicherheitspolitikern nach einer schnellen Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung müsse man sich ernsthaft mit Alternativen zum massenhaften anlass- und verdachtslosen Speichern von Verkehrsdaten der Telekommunikation auseinandersetzen. Als Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internetnutzern teilen und begrüßen wir die Ablehnung einer Vorratsdatenspeicherung, für die Datenschutzbeauftragte, Zivilgesellschaft, Berufsverbände und freiheitsfreundliche Politiker gemeinsam werben.

Mit Unverständnis und Bestürzen haben wir feststellen müssen, dass Sie mit dem neuerlichen Vorschlag einer ein- oder zweiwöchigen Erfassung aller unserer Verbindungen diesen Konsens verlassen haben. Die gesuchte "Alternative zur Vorratsdatenspeicherung" kann nicht eine Vorratsdatenspeicherung sein, egal wie "klein" oder "leicht" sie angeblich erscheinen mag!

Jede Vorratsdatenspeicherung hat verheerende Folgen

Sie haben die Auffassung vertreten, eine ein- oder zweiwöchige Vorratsdatenspeicherung sei ein "weitaus geringerer Eingriff" als eine sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung. Die Verkürzung des Zeitraums verringert allerdings nicht den Eingriff als solches. Eine Verkürzung des Speicherzeitraums würde nichts an den fatalen Wirkungen jeder verdachtslosen Totalspeicherung ändern:

Jede allgemeine Verbindungsdatenaufzeichnung setzt vertrauliche Tätigkeiten und Kontakte etwa zu Journalisten, Beratungsstellen oder Geschäftspartnern dem ständigen Risiko eines Bekanntwerdens durch Datenpannen und -missbrauch aus. Daneben schafft die Aufzeichnung von Verbindungsdaten das permanente Risiko, unschuldig einer Straftat verdächtigt, einer Wohnungsdurchsuchung oder Vernehmung unterzogen oder abgemahnt zu werden, denn Verbindungsdaten lassen nur auf den Inhaber eines Anschlusses rückschließen und nicht auf dessen Benutzer.

Das ständige Risiko von Nachteilen infolge von Kommunikationsprotokollen entfaltet eine enorme Abschreckungswirkung und vereitelt eine unbefangene Telefon- und Internetnutzung in sensiblen Situationen (z.B. anonyme Information von Journalisten, anonyme Meinungsäußerung im Internet, vertraulicher Austausch von Geschäftsgeheimnissen, vertrauliche Koordinierung politischer Proteste, psychologische, medizinische und juristische Beratung und Selbsthilfegruppen von Menschen in besonderen Situationen wie Notlagen und Krankheiten). Wenn gefährliche oder gefährdete Menschen nicht mehr ohne Furcht vor Nachteilen Hilfe suchen können, verhindert dies eine sinnvolle Prävention und kann sogar Leib und Leben Unschuldiger gefährden.

Jede massenhafte Erfassung des Informations- und Kommunikationsverhalten vollkommen Unschuldiger verstößt gegen die EU-Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der EU-Gerichtshof, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Rumänische Verfassungsgerichtshof haben flächendeckende Veröffentlichungen, Erfassungen oder Aufzeichnungen persönlicher Daten bereits als unverhältnismäßig verworfen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung nur das Grundgesetz angewandt, nicht aber die ebenfalls zu beachtende EU-Grundrechtecharta und Europäische Menschenrechtskonvention geprüft.

Die Zulassung einer Vorratsdatenspeicherung wäre - wie Sie es selbst formuliert haben - ein großer Dammbruch auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft. Die globale Speicherung von Daten allein für eine mögliche künftige staatliche Verwendung würde allmählich alle Lebensbereiche erfassen, denn die vorsorgliche Protokollierung personenbezogener Daten ist für den Staat stets und in allen Bereichen nützlich. Wenn dem Staat die permanente Aufzeichnung des Verhaltens sämtlicher seiner Bürger ohne Anlass gestattet würde, würden schrittweise sämtliche Lebensbereiche in einer Weise registriert werden, wie es selbst unter früheren totalitären Regimes wie der DDR undenkbar war. Sicherlich wollen Sie nicht, dass der Staat "kurzfristig" erfassen lässt, wo Sie sich aufhalten, welche Bücher Sie lesen und mit wem Sie den Tag über sprechen und verkehren?

Strafverfolgung braucht keine Vorratsdatenspeicherung

Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen ist die Feststellung, dass nicht gespeicherte Verbindungsdaten nicht an den Staat herausgegeben oder für diesen "eingefroren" werden können. Dies ist indes kein Nachteil der aktuellen Rechtslage, sondern - wie oben gezeigt - ihr entscheidender Vorteil.

Leider übernehmen Sie damit unbesehen die Behauptung maßloser Innenpolitiker, man brauche insbesondere bei Pauschaltarifen ("Flatrates") eine Protokollierung jeder Verbindung, um Straftaten verfolgen zu können. Gerade weil Union und Polizeifunktionäre eine durchsichtige Kampagne für eine neuerliche Aufzeichnung aller Verbindungen betreiben, ist es wichtig, dass wir die Argumente dieser Kampagne widerlegen, anstatt sie als "berechtigte Einwände" zu bestätigen.

Die Annahme, dass sich Straftaten ohne Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten über das Verbindungsende hinaus nicht verfolgen ließen, ist falsch. Schon der Blick auf unser tägliches Leben zeigt, dass die meisten (ca. 55%) dem Staat bekannt gewordenen Straftaten aufgeklärt werden können, obwohl niemand mitschreibt, mit wem wir geredet, wo wir uns aufgehalten oder worüber wir informiert haben. Wie gelingt Strafverfolgung bei unbekannten Tätern?

Die Verfolgung von Straftaten wird durch das Internet nicht erschwert, sondern enorm erleichtert. Ohne Totalerfassung sämtlicher Verbindungen werden Internetdelikte sehr viel häufiger aufgeklärt (zu über 70%) als sonstige Straftaten (zu etwa 55%). Solange dies so ist, besteht überhaupt kein Anlass für eine blindwütige Erfassung sämtlicher Kontakte, Bewegungen und Internetnutzungen völlig unschuldiger Menschen. Die äußerst hohen Aufklärungsraten bei Internetdelikten ohne Vorratsdatenspeicherung wurden übrigens zuletzt im Jahr 2008 erzielt, als schon 86% der Deutschen eine Internet-Flatrate nutzen. Dies beweist, dass eine wirksame Strafverfolgung auch bei Pauschaltarifen ("Flatrates") ohne verdachtslose Aufzeichnung jeder Verbindung möglich ist.

Es ist nicht nachzuweisen, dass eine Vorratsdatenspeicherung überhaupt einen statistisch signifikanten Beitrag zu der Zahl der aufgeklärten Straftaten leistet. Dabei ist erstens zu berücksichtigen, dass überhaupt nur 3% aller Straftaten im Internet begangen werden und in nicht einmal 0,01% aller Strafverfahren auf Vorratsdaten zugegriffen wurde. Zweitens kam es nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts im Auftrag des Bundesjustizministeriums in 72% der Ermittlungsverfahren mit erfolgreicher Verbindungsdatenabfrage gleichwohl zu keiner Verurteilung.

In Deutschland wurde vor Beginn der Vorratsspeicherung aller Internet-Verbindungsdaten sogar ein größerer Anteil der Internetdelikte aufgeklärt (79,8%) als nach Inkrafttreten der Internet-Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2009 (75,7%). Zu erklären ist dieser erstaunliche Befund mit den kontraproduktiven Wirkungen einer Totalerfassung aller Verbindungen. Werden sämtliche Verbindungen erfasst, wächst das Bewusstsein der Rückverfolgbarkeit jeder Internetnutzung und werden in zunehmendem Maß Umgehungsmöglichkeiten (z.B. Internet-Cafés, offene Internetzugänge (WLAN), Anonymisierungsdienste, öffentliche Telefone, unregistrierte Handykarten) genutzt, die dann selbst bei Verdacht einer Straftat keine gezielten Ermittlungen mehr zulassen, wo sie ohne Vorratsdatenspeicherung noch möglich gewesen wären.

Das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat Quick Freeze als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung keineswegs verworfen. Es hat lediglich festgestellt, der Gesetzgeber dürfe nach dem Grundgesetz eine sechsmonatige Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten als erforderlich beurteilen, weil eine gezielte Aufbewahrung nicht in jedem Einzelfall so wirksam sei wie eine globale und pauschale Vorratsdatenspeicherung. Die verfassungsrechtliche Hürde der "Erforderlichkeit" ist allerdings äußerst niedrig: Schon eine einzige Bagatellstraftat, die nur durch Vorratsdatenspeicherung aufzuklären ist, verhilft der radikalen Vorratsdatenspeicherung über die Erforderlichkeitshürde, selbst wenn insgesamt betrachtet ohne Vorratsdatenspeicherung sogar mehr Straftaten aufgeklärt werden können (was das Bundesverfassungsgericht übrigens nicht bestreitet).

Für die politische Debatte über die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer verdachtslosen Erfassung sämtlicher Verbindungen kann das minimale verfassungsrechtliche Erforderlichkeitsgebot nicht maßgeblich sein. Politisch ist vielmehr entscheidend, dass im Internet keine rechtsfreien Räume entstehen und Internetdelikte ebenso wirksam aufgeklärt werden können wie außerhalb des Internet begangene Delikte. Dies ist, wie oben erläutert, auch ohne Vorratsdatenspeicherung gewährleistet.

Strafverfolger und Opferverbände überzeugen

Sie mahnen eine Lösung an, die auch Strafverfolger und Opferverbände überzeugt. Wer als Politiker, Strafverfolger oder Opferverband unbefangen und sachorientiert entscheidet, wird sich von den genannten Belegen der Überflüssigkeit einer Vorratsdatenspeicherung überzeugen lassen. Er wird verstehen, dass eine Vorratsdatenspeicherung, die den Schutz von Menschenleben gefährdet, Datenmissbrauch fördert, Korruption begünstigt, Arbeitsplätze aufs Spiel setzt und die Ermittlung von Straftätern behindert, kontraproduktiv, inakzeptabel und verfehlt ist.

Demgegenüber werden Sie festgestellt haben, dass der "Kompromissvorschlag" einer ein- oder zweiwöchigen Vorratsdatenspeicherung weder Befürworter noch Gegner einer protokollierungsfreien Telekommunikation zu überzeugen vermochte. Schon viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Datenschutzkonferenz hat der Vorschlag nicht überzeugt. Die Gegner einer protokollierungsfreien Telekommunikation haben erst Recht bloß mit der Forderung nach weitaus längeren Speicherfristen geantwortet.

Kommunikationsfreiheit politisch klug verteidigen

Sie haben Ihren Vorschlag in der Annahme vorgelegt, es sei ausgeschlossen, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung fallen wird. Wir teilen Ihren Grundansatz, dass auf europäischer Ebene ein Gegenmodell zur Vorratsdatenspeicherung gebraucht wird. Schon seit Monaten wirbt die Zivilgesellschaft europaweit und insbesondere bei der EU-Kommission für ein solches Gegenmodell.

Wir fordern dabei nicht die ersatzlose Streichung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, weil dies die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung nicht stoppen würde. Gemeinsam mit 100 Organisationen europaweit fordern wir vielmehr die "Abschaffung der EU-Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung zugunsten eines Systems zur schnellen Sicherstellung und gezielten Aufzeichnung von Verkehrsdaten, wie es in der Cybercrime-Konvention des Europarats vereinbart worden ist". Wir fordern also ein Verfahren zur schnellen Sicherstellung und gezielten Aufzeichnung von Verkehrsdaten, verbunden mit einem europaweiten Verbot einer verdachtslosen und flächendeckenden Totalspeicherung. Das ist unser Gegenmodell zur Vorratsdatenspeicherung.

Auch für den Fall, dass dieses Modell nicht europaweit durchzusetzen sein sollte, liegt ein Vorschlag auf dem Tisch: Danach würde die EU wenigstens den nationalen Volksvertretern und Verfassungsgerichten die Wahl überlassen, ob sie sich für eine (möglichst eingeschränkte) Vorratsdatenspeicherung oder aber für das bewährte Verfahren gezielter Aufbewahrungsanordnungen entscheiden. Wenn sich mehrere Mitgliedsstaaten für dieses Modell aussprechen und es im Europaparlament auf Akzeptanz stößt, bestehen durchaus Realisierungschancen. Das verfehlte Grundprinzip einer anlasslosen Totalerfassung muss dazu nicht akzeptiert werden.

Appell

Sehr geehrter Herr Schaar, wir schätzen Ihre Arbeit als Bundesbeauftragter für den Datenschutz und haben großen Respekt davor. Im Hinblick auf die große Verantwortung, die Sie als Bundesdatenschutzbeauftragter tragen, appellieren wir an Sie, jeder verdachtsunabhängigen Speicherung von Kommunikations- und Verbindungsdaten, die der grundgesetzlich geschützten Sphäre privater Lebensführung zuzurechnen sind, unabhängig von der Dauer der Speicherung entschieden entgegen zu treten.

Gerade in der jetzigen politischen Situation brauchen wir Ihre Unterstützung bei unserer Werbung für das Modell einer gezielten Strafverfolgung, das sich neben Deutschland auch in vielen weiteren Staaten wie Österreich, Schweden, Griechenland und Kanada bewährt hat. Bitte fallen Sie uns bei unserem europaweiten Werben für gezielte Strafverfolgung nicht zur Unzeit in den Rücken, sondern unterstützen Sie unsere europaweite Koalition gegen Vorratsdatenspeicherung nach Kräften. Wir würden es beispielsweise begrüßen, wenn Sie die deutschen Befürworter einer protokollierungsfreien Telekommunikation zu einem gemeinsamen Gespräch und Strategietreffen einladen würden.

Seien Sie sich unserer Unterstützung versichert, wenn es um die Entwicklung von und Werbung für Alternativen zu einer globalen und pauschalen Erfassung unserer Kommunikation geht.

Quelle: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/407/1/lang,de/



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Tags: #Vorratsdatenspeicherunglight #Bundesdatenschutzbeauftragten #Schaar #AKVorrat #QuickFreeze
Erstellt: 2010-11-17 08:22:48
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