11.08.2017 Videos und Berichte von Demonstrationsbeobachtung in Hamburg

Polizei-Video kann keine Gewalt auf Seiten der Demonstranten zeigen

Wurde der Rechtsstaat bei den G20-Demos statt von einigen Randalierern von der Polizeiführung in Frage gestellt?

Auf jeden Fall hat die Polizei die Deutungshoheit über die "Geschehnisse" verloren, nachdem nun ein Video der Polizei vom Fernsehmagazin Panorama und der Süddeutsche Zeitung eingesehen werden durfte. Dieses Video straft die Darstellung der Beamten Lügen, es habe vor dem Zugriff einen "massiven Bewurf" mit Steinen und Flaschen gegeben.

Denn das war die Rechtfertigung für den brutalen Zugriff der Einsatzkräfte auf rund 200 Demonstranten im Industriegebiet Rondenbarg in Bahrenfeld am Morgen des 7. Juli. Dort gab es 73 Festnahmen an diesem Morgen – und 14 teilweise durch Knochenbrüche verletzte Demonstranten.

Die Süddeutsche betont: "Was man in dem Video nicht sieht: ein einziger Steinwurf oder eine einzige Flasche. ... Unmittelbar angegriffen wurde – zumindest vor dem Sturm der Polizei – kein Beamter. Man würde es sehen."

Trotzdem kam es dort zu 59 Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs, 13 der Beschuldigten kamen in Untersuchungshaft, vier sind immer noch in Haft, alle sind Italiener. Mit Hinweis auf das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention forderte am Montag Martin Dolzer, justizpolitischer Sprecher der Hamburger Linksfraktion deren Freilassung gegenüber der jungen Welt.


Zu den Vorgängen bei den G20-Demos hat auch das Grundrechtekommitee einen Bericht verfasst, denn sie waren mit 43 Demobeobachtern vor Ort und haben ihre Erlebnisse zusammengetragen.

Ausnahmezustand – Polizeistaat – Aufstandsbekämpfungsübung?

Demonstrationsbeobachtung in Hamburg vom 2. – 8. Juli 2017

Mit insgesamt 43 Demonstrationsbeobachterinnen hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie viele Versammlungen in der Zeit vom 2. bis 8.Juli 2017 in Hamburg begleitet. Wir wollen den einseitigen Polizeiberichten genaue Darstellungen der Abläufe entgegenstellen. Unser Ausgangspunkt sind die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Denn diese galten seit jeher „als Zeichen der Freiheit, der Unabhängigkeit und der Mündigkeit des selbstbewussten Bürgers“, wie es im Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts heißt.

Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. Sie hat eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert, sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit großer Gewalt gegen die Menschen vor. Schon seit Monaten warnen wir vor dem Ausnahmezustand, der anlässlich des G20 in Hamburg produziert wird. Das, was wir in dieser Woche vorgefunden haben, geht sogar über das, was wir befürchtet haben, noch hinaus. Nicht nur wurden die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Die Polizei hat, gedeckt von der Hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Interessen der/des Innminister/-senators und der Sicherheitsbehörden den Ausnahmezustand geprobt.

Die Versammlungsfreiheit als Grund- und Menschenrecht galt in Hamburg nicht. Es gab Versammlungen, denen die Polizei ihr Grundrecht zugestand (z.B. die Nachttanzdemo am Mittwochabend), es gab auch solche, wie die am Samstag, 8. Juli 2017, bei denen die Polizei mehrfach massiv kontrollierend und regulierend eingriff. Und es gab die „Wellcome to hell“-Demo, die die Polizei nach wenigen Metern stoppte und regelrecht angriff. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist jedoch ein Menschenrecht, das nicht nach polizeilichen Vorstellungen und Gutdünken gewährt oder verwehrt werden kann. Im Gegenteil ist es das Recht der Bürgerinnen, selbst über Zeit, Ort und Gestaltung ihres Protestes zu entscheiden. Versammlungen sind prinzipiell staatsfrei. Während der G20-Proteste in Hamburg ging die Polizei immer wieder mit massiver polizeilicher Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vor, insbesondere mit Wasserwerfern und Pfefferspray. Immer wieder mussten wir beobachten wie Polizeibeamte ohne Zeitdruck, die Tonfa-Schlagstöcke schwingend, schnell in eine Versammlung hinein liefen und Panik erzeugten. Mehrmals liefen Menschen angsterfüllt Treppen und Wiesen hoch oder überkletterten Mauern. Schwere Verletzungen wurden bei solchen Einsätzen in Kauf genommen. Transparente polizeiliche Aufforderungen gab es meist vorher nicht oder sie waren nicht zu verstehen.

Trotz alledem hat sich immer wieder eine große Anzahl von Demonstrierenden zusammengefunden und konnte zeitweise ihr Recht auf Versammlungsfreiheit durchsetzen. Die Bürgerinnen haben Tag für Tag versucht, sich ihr Recht zu nehmen.

Die Polizei machte deutlich, dass sie sich auch  über die Rechtsordnung hinwegsetzt, als sie das Gerichtsurteil des VG Hamburg ignorierte, das das Recht zu campen bestätigt hatte.  Nach dem Motto: wir beschäftigen die Gerichte so lange,  bis wir bekommen was wir wollen, oder sich die Sache im Zeitverlauf erledigt hat, erließ sie neue Verfügungen. Das klappte zwar nur bedingt, aber es erhöhte die Unsicherheit für die Anreisenden. Zugleich förderte es jedoch die breite Solidarisierung der Bürgerinnen.

Erschreckend sind die vielen Übergriffe auf die Gruppen, die den Protest funktional unterstützen, insbesondere die Rechtsanwältinnen, die Demonstrations-Sanitäterinnen und die Journalistinnen.

Außerhalb der Versammlungen haben die Eskalationen Wiederhall gefunden und Zerstörungswut freigesetzt, über deren Ausmaß, Hintergrund und Zusammensetzung wir nichts sagen können.

Die vielen detaillierten Berichte der Demonstrationsbeobachterinnen werden wir in den nächsten Tagen zusammentragen und dann noch einmal sehr konkret und zusammenfassend berichten. Fürs erste zeigen wir hier einige Aspekte auf:

Ende März 2017 ermahnte die Bundesregierung die Sicherheitsbehörden in Russland und Weißrussland, die Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu achten. Regierungssprecher Steffen Seibert erinnerte daran, dass sich Russland zur Einhaltung der Prinzipien von OSZE und Europarat verpflichtet habe. Das harsche Vorgehen der örtlichen Behörden werfe Fragen nach der Verhältnismäßigkeit auf. Auch als im Juni Demonstrierende in Russland festgenommen wurden, beklagte Gernot Erler das massive Vorgehen der russischen Behörden, das das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung bedrohe. Recht hatten Sie! Dieses Menschenrecht muss jedoch auch in Deutschland gelten, auch dann wenn ein G 20 stattfindet.

Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V., Aquinostr. 7 -11, 50670 Köln

Mehr dazu bei https://www.jungewelt.de/artikel/315925.polizei-verliert-deutungshoheit.html
und http://www.grundrechtekomitee.de/node/873
und https://vimeo.com/224524911?ref=tw-v-share
und vom Anwaltlichen Notdienst zu den Vorgängen bei den G20-Demos: https://www.youtube.com/watch?v=zoApk1lc5-4
und im ARD-Mittagsmagazin schildert Attac-Aktivistin Sabine Lassauer ihren Fall http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/mittagsmagazin/videos/polizeigewalt-beim-g20-gipfel-100.html


Kommentar: RE: 20170811 Videos und Berichte von Demonstrationsbeobachtung in Hamburg

Pressemitteilung: Grundrechtekomitee fordert unverzügliche Freilassung von Fabio V.
Die über weite Strecken deutliche Beschneidung der Grundrechte im Rahmen des G20-Gipfels hat das Grundrechtekomitee in diesem Jahr stark beschäftigt. Nachdem wir mit insgesamt 43 Demobeobachter*innen vor Ort waren und dazu einen umfangreichen Bericht vorgelegt haben, war es uns wichtig, uns auch an der weiteren Aufarbeitung des Protestgeschehens zu beteiligen. Im Moment werden jede Woche mehrere Strafprozesse gegen Menschen geführt, die während des Gipfels festgenommen wurden. Der wohl bekannteste Fall ist der des 18-jährigen Fabio V., der am Rondenbarg festgenommen wurde und seitdem in Untersuchungshaft ist. Das brisante an diesem Fall: er ist für schwere Straftaten angeklagt, obwohl sich keinerlei Beweise einer individuellen Beteiligung an Gewalttätigkeiten finden. Es wird also versucht, ihn in Kollektivhaftung zu nehmen, was fundamentalen rechtsstaatlichen Prinzipien entgegen steht. Die Verlängerung der U-Haft ging zudem mit unmöglichen Unterstellungen über seinen Charakter einher. Das hat uns veranlasst, am Verfahren teilzunehmen und als Prozessbeobachter aufzutreten. In diesem Rahmen haben wir gestern eine Pressemitteilung versendet.

Komitee für Grundrechte und Demokratie, 16.11.2017 15:59


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Erstellt: 2017-08-11 10:12:43
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